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Besonders seit dem Beginn der Gesundheitskrise frage ich mich immer öfter: Wie hat sich das Bild von Wertschätzung, Vielfalt und Sichtbarkeit gegenüber Senioren verändert? Eines ist klar (wobei ich hier nur meine ganz persönliche Erfahrung und Sichtweise der Dinge wiedergebe): In letzter Zeit hat das Misstrauen gegenüber älteren Menschen zugenommen, die man in der Öffentlichkeit antrifft, weil sie nicht «schön brav» das Haus hüten. Am meisten schockiert es mich, wenn solche Seniorinnen oder Senioren dann verbal angegriffen werden, z.B. mit der Aussage: «Wieso bleiben Sie nicht zu Hause? Wegen Ihnen machen wir doch diesen Lockdown!», oder: «Gehen Sie nur, ich nehme lieber den nächsten Lift.» Auch bin ich erschüttert, wenn ich Ansichten höre wie: «Senioren sollten sich finanziell an diesem finanziellen Fiasko beteiligen.» Unsere älteren Mitmenschen (Eltern und Grosseltern) haben ihr ganzes Leben hart gearbeitet und gespart, damit unsere Schweiz so hervorragend dasteht, was sie es heute tut. Und deshalb, so finde ich, müssen die Wertschätzung gegenüber Seniorinnen und Senioren, ihre Sichtbarkeit in der Gesellschaft und damit die Vielfalt dieser Gesellschaft wieder ansteigen.

Eine Lobby für Senioren? Eine berechtigte Frage!

Die Bevölkerungsstatistik spricht eine deutliche Sprache: Ende 2019 lebten in der Schweiz rund 1,61 Millionen Seniorinnen und Senioren, so viele wie noch nie zuvor. Ihre Zahl steigt im Zuge des allgemeinen Bevölkerungswachstums seit langem konstant an. Doch braucht diese Altersgruppe, zu der man offiziell ab 65 Jahren gehört, auch eine Lobby? Fast jede Branche (Umwelt, Wirtschaft oder Gesundheit) hat eine solche Organisiation, die ihre Interessen in den Wandelhallen von Bundesbern vertritt – sogar die Politiker selbst, die dort von den Lobbyisten umgarnt werden. Die Antwort auf meine Frage lautet «jein»: Ja, es gibt zwar Pro Senectute oder Verbände wie den SVS. Aber nein, für die echte Lobbyarbeit fehlen oftmals die menschlichen Kontakte – so meine Einschätzung. Unsere Senioren haben sehr lange gearbeitet und haben das Recht, auch im Alter so zu leben, wie sie es wollen. Doch aus meiner Sicht haben diese älteren Leute niemanden, der sie an den Stellen vertritt, wo Entscheidungen gefällt werden. Im Gegenteil: Sie werden aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit entfernt. Werden, sobald sie Mühe im alltäglichen Leben haben, in Heime abgeschoben oder zu Hause im Verborgenen gepflegt. Oftmals werden sie auch von gesellschaftlichen Anlässen ausgeschlossen. Auf ihren Rat wird kaum noch gehört. Dabei hätten sie unglaublich viel zu erzählen und einzubringen – wovon wir alle profitieren können. Für mich ist es klar: Im Zuge ihres unaufhaltsamen Wachstums bedarf unsere ältere Generation sogar ganz dringend einer Lobby. Einer Lobby, die Werte und Wünsche von Senioren aus politischer, wirtschaftlicher und psychologischer Sicht respektiert, aufgreift und in Lösungen zur Verbesserung ihrer Lebensumstände umsetzt.

Mehr Solidarität zwischen der jungen und der älteren Generation

Für die Zukunft braucht es vermehrt Anstrengungen, damit die Solidarität zwischen allen Generationen weiter verbessert werden kann. Die Generationen untereinander können viel profitieren, wenn die Kommunikation, das Wissen und die Vielfalt miteinander geteilt werden. Die Senioren geben der jüngeren Generation Weisheit, Demut und Lebenserfahrung weiter. Im Gegenzug helfen die Jungen der älteren Generation beim Umgang mit der Technik, der Leichtigkeit des Lebens oder ganz generell den alltäglichen Herausforderungen. Aber wie schafft man das? Das frage ich mich öfters. Wie ich in einem meiner bereits erschienenen Blog-Beiträge beschrieben habe, sind neue Wohnformen («Alle Generationen unter einem Dach») eine Möglichkeit, die gegenseitige Solidarität zu verbessern. Es gibt auch einige Anlaufstellen, wo Generationen gemeinsam Projekte veranstalten. Und was mir natürlich sehr am Herzen liegt, ist das Pflege- und Betreuungspersonal. Wie eine DOK-Sendung auf Fernsehen SRF gezeigt hat, ist der Pflegenotstand eine Realität. (Wobei: Die Situation erlebte ich schon vor 35 Jahren so, als ich noch im Spital tätig war.) Viele Seniorinnen und Senioren werden zum Beispiel in den Alters- und Pflegeheimen fast vergessen, vernachlässigt oder zu wenig wertgeschätzt. Diese Geringschätzung des Alters ist aber ein Grund für den Pflegenotstand und den Personalmangel in den Heimen. Weil alte Menschen oft eher als mühsam denn als bereichernd gelten, gilt auch der Beruf des Seniorenpflegers bzw. der Seniorenpflegerin nicht als besonders attraktiv. Natürlich ist es ein Muss, Pflegekräfte besser zu bezahlen und die Arbeitsbedingungen massiv zu verbessern. Wie die aktuelle Gesundheitskrise zeigt, sind wir auf das Pflege- und Betreuungspersonal immer mehr angewiesen. Eine bessere Ausbildung mit Möglichkeiten zur Weiterbildung sowie mehr Geld für die Pflege- und Betreuungsversicherung, dies sind ebenfalls wichtige Bausteine, um die Pflege aufzuwerten. Nur schöne Worte und Applaus von den Balkonen reichen da einfach nicht mehr. Pflege und Gesundheit gehören zur Daseinsfürsorge und damit in öffentliche oder konfessionelle Hand. Wenn Seniorinnen und Senioren zunehmend «versteckt» oder nur als «Kostenpunkt» gesehen werden, ist keine Besserstellung der Pflegekräfte zu erwarten. Für eine Wertschätzung des Alters und des Pflegepersonals spricht es schon mal gar nicht. Die Tage, wo Pflege und Betreuung noch als reine Herzensangelegenheit galten, sind leider schon lange gezählt.