Heute ist vieles anders als früher, und in der Zukunft wird wieder vieles anders sein als heute. Die Zeiten ändern sich eben, und mit ihnen die Werte: Das mag zunächst banal klingen, aber es ist deswegen nicht weniger wahr. Wenn wir auf unser Leben zurückschauen, egal, wie alt wir sind, müssen wir uns eingestehen: Ja, es gibt einen steten Wertewandel über Generationen. Doch wie empfinden ihn die Seniorinnen und Senioren, also Menschen, die schon sehr viel erlebt haben? Diese Frage ist nicht nur für meine Klientinnen und Klienten sehr spannend, sondern auch für mich als mittlerweile auch schon sechzigjährige private Seniorenbetreuerin. Viele Menschen, insbesondere die älteren unter uns, setzen diesen Wertewandel mit persönlichen Erfahrungen und mit gesellschaftlichen Veränderungen in Verbindung. Ältere Menschen waren und sind Zeitzeugen von Wandel in Familie, Religion, Erziehung, Ethik, Politik, Wissenschaft und Moral. Ihre Sichtweise bietet wertvolle Einsichten, oft verbunden mit Reflexion, und auch Kritik an der Gegenwart sowie der Vergangenheit.
Im Folgenden werde ich versuchen, einen Überblick zu vermitteln, wie Seniorinnen und Senioren den Wertewandel erleben oder beschreiben. Er fast das zusammen, was ich in Gesprächen und bei der Arbeit mit älteren Menschen über den Wertewandel höre und erlebe – und wie ich es wahrnehme. Selbstverständlich zeigt dieser Überblick nur einen Ausschnitt aus der Realität und ist also nicht abschliessend. Und natürlich gibt es auch ältere Menschen, die zum Thema «Wertewandel über Generationen» andere oder gegenteilige Meinungen vertreten.
Familie und Erziehung – Fundamente des (Zusammen-)Lebens
- Früher galten traditionelle und klare Rollenbilder. Es existierten starke Autoritäten (der Vater als Familienoberhaupt oder «Kapitän» und die Mutter als fürsorgliche Instanz, hingebungs- und aufopferungsvoll für ihre Kinder und ihren Ehemann). Die Familie lebte mit den Grosseltern unter einem Dach. Man war füreinander da. Die Ehe galt als Rechtsbündnis zwischen zwei Parteien, und die Religionszugehörigkeit war sehr wichtig.
- Heute gelten Gleichberechtigung und mehr Individualität. Es gibt weniger klassische Rollenverteilung und mehr Verwirklichung der Frauen. Es existieren Patchworkfamilien. Feminismus und Emanzipation sind stark angewachsen.
Das Fazit und die Meinung der älteren Generation dazu: Es ist positiv, dass Kinder heute mit mehr Selbstbewusstsein und Möglichkeiten aufwachsen. Man macht sich aber auch Sorgen wegen der «Respektlosigkeit» oder der fehlenden Grenzen. Mögliche Ursache: Die Erziehung der Kinder wird wegen der Arbeitstätigkeit der Eltern ausgelagert. Auch wird moniert, dass Frauen «männlicher» und Männer «weiblicher» werden. Und es besteht generell wenig Verständnis, dafür mehr Befürchtungen in Bezug auf die sogenannte «Woke-Gesellschaft».
Arbeit und Pflichtbewusstsein – das gehörte einfach dazu
- Früher galt: Arbeit ist Pflicht und verleiht Identität. Und man sprach gar nicht so viel darüber. Hauptsache, Ende Monat konnten die Rechnungen bezahlt und die Familie ernährt werden. Der eigene Anspruch resp. die Erfüllung im Beruf wurde viel geringer gewichtet. Auch die Loyalität zum Arbeitgeber stand hoch im Kurs. Viele ältere Menschen arbeiteten ihr ganzes Leben beim gleichen Unternehmen.
- Heute gelten mehr Selbstverwirklichung, eine intakte Work-Life-Balance, häufige Jobwechsel. Je nach Wirtschaftslage ist heute mehr möglich, und die Verdienstmöglichkeiten sind besser. Die Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber hingegen hat abgenommen.
Das Fazit und die Meinung der älteren Generation dazu: Einst war man stolz auf die geleistete Arbeit und zeigte Pflichtbewusstsein, auch mit wenig Einkommen. Die persönlichen Beziehungen spielte eine grosse Rolle, im Beruf wie auch privat. Wenig Verständnis besteht hingegen für die heutige «Flexibilität» oder «Unverbindlichkeit» und die «Wichtigkeit» der eigenen Bedürfnisse.
Religion und Moral – sie waren wie das Amen in der Kirche
- Früher galt die Kirche als moralischer Kompass. Pfarrer waren fast unantastbar. Meistens wurde in derselben Glaubensrichtung geheiratet. Die Moral hatte noch eine Bedeutung. Es gab eindeutig weniger Scheidungen (wobei dies wohl auch mit den damit verbundenen finanziellen Problemen zu tun hatte). Und wenn Schwierigkeiten auftraten, kämpfte man «stärker» füreinander – und für die Ehe.
- Heute gilt mehr Toleranz für Andersgläubige und Andersdenkende. Aber es herrscht auch eine gewisse moralische «Beliebigkeit». Kirchen werden zwar noch genutzt und besucht, aber oftmals nur für vereinzelte Veranstaltungen wie Hochzeit, Taufe, heilige Kommunion oder Firmung.
Das Fazit und die Meinung der älteren Generation dazu: Viele bedauern, dass traditionelle Werte und der Glauben an Bedeutung verlieren. Andere wiederum schätzen die grössere Offenheit und den grösseren Spielraum von heute für andere Glaubensrichtungen. Aber gemeinsam vermissen nicht wenige die Moralvorstellungen und die ethischen Grundsätze von einst.
Gesellschaft und Politik – es gab noch klare Leitbilder
- Früher galt, dass man nicht alles in Frage stellt. Die Gesellschaft hatte sich an gewisse «Normen» zu halten. Die politischen Parteien hatten Leitbilder, die man in der Umsetzung noch spürte. Bei der ehemaligen CVP (heute «Die Mitte») hatte das «C» (für «Christlich») noch eine Bedeutung. Die FDP wiederum war noch liberal und stand ebenfalls für ihre Werte ein.
- Heute gilt kritisches Denken als nicht nur erlaubt, sondern als Gebot der Stunde. Anders gesagt: Es gilt, die «Normen» zu sprengen. Andererseits steht die «Politische Korrektheit» ebenfalls im Vordergrund, und man hat sich den Launen der «Woke-Gesellschaft» anzupassen. Und: Die Individualrechte werden höher gewichtet als die Ansprüche der Gesellschaft als Ganzes.
Das Fazit und die Meinung der älteren Generation dazu: «Früher war alles einfacher», hört man oft. Viele erschreckt es, wie die Altersdiskriminierung zugenommen hat und ältere Menschen weniger bis keine Rechte mehr zu haben scheinen. Es ist jedoch schon auch so, dass Seniorinnen und Senioren die Fortschritte in Demokratie, Gleichstellung und Bildung durchaus anerkennen und «goutieren».
Technik und Digitalisierung – Schwäche und Chance zugleich
- Früher galt es schon fast als «Kultobjekt»: das Telefon mit Wählscheibe. Auch gab es Telefonkabinen in jedem Dorf und jeder Stadt. Man schrieb noch Briefe und Karten (von Hand!), verzierte sie mit viel Liebe und brachte sie persönlich zum Post oder zum Briefkasten. Und (fast) jedes Kind führte noch ein Tagebuch.
- Heute gilt: Handys bzw. Smartphones sind nicht mehr wegzudenken. Social-Media-Plattformen bestimmen die Freizeit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und immer mehr auch die Berufswelt. Die Künstliche Intelligenz ist rasant auf dem Vormarsch.
Das Fazit und die Meinung der älteren Generation dazu: Man staunt allgemein über all die neuen technischen Möglichkeiten. Sie werden zum Teil auch rege genutzt. Auf der anderen Seite sind viele Seniorinnen und Senioren von all der rasant voranschreitenden Digitalisierung einfach überfordert. Man hört auch Kritik wegen der «Entfremdung» und dem zunehmenden Mangel an menschlichem Miteinander. Viele merken, dass ihnen ob der Nutzung der digitaler Medien auch die Fähigkeit abhandenkommt, sich (hand)schriftlich auszudrücken. Die ganze Konzentration wird auf die Erstellung eines Textes verwendet, und Rechtschreibung und Grammatik bleiben links liegen.
Zum Schluss noch einige typische Aussagen oder Gedanken, wie ich sie bei meiner beruflichen Tätigkeit als private Seniorenbetreuerin immer wieder so oder ähnlich zu hören bekomme:
- «Zum Glück bin ich schon so alt. Ich hatte ein strenges, aber schönes Leben.»
- «Früher konnte man sich noch auf den Handschlag verlassen.»
- «Früher hatte man mehr Respekt vor dem Alter.»
- «Ich möchte nicht mehr jung sein. Die Jugend hat es heute mit den Anforderungen schwerer, auch wenn sie mehr Freiheiten hat.»
- «Heute darf man offener über alles reden – aber man wird auch gleich wieder kritisiert, wenn es nicht den ‹Woke-Regeln› entspricht.»
- «Gerade Leute, die sich selbst als tolerant bezeichnen, sind oft bei Gegenargumenten dann doch empfindlicher, als sie es zugeben.»
- «Wir werden heute durch eine Minderheit (gesellschaftlich wie politisch) bestimmt und überstimmt.»
Und mein persönliches Fazit dazu: Viele Seniorinnen und Senioren sehen den Wertewandel mit gemischten Gefühlen. Sie erkennen zwar den Fortschritt und die Errungenschaften der modernen Gesellschaft. Gleichzeitig vermissen sie aber auch bestimmte Tugenden aus ihrer Vergangenheit. Findet das Gespräch aber auf Augenhöhe statt, dann wird es generationenübergreifend als positiv aufgenommen und bewertet.